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Belinda Grace Gardner
Zur Ausstellung Xuan Wang: Rätsel – Malerei auf Papier
Galerie und Verlag St. Gertrude, Hamburg, 21. September bis 28. Oktober 2017
In den Bildern von Xuan Wang – die Ausstellung präsentiert Kompositionen von 2013 bis heute – prallen die Welten und Zeiten, Inhalte und Texturen in scheinbar surrealer Widersinnigkeit und Paradoxie aufeinander. Im Sinne des berühmten, von Lautréamont abgeleiteten Schönheitsbegriff der Surrealisten, demzufolge die Begegnung von „wesensfremden Elementen auf einem ihnen wesensfremden Plan die stärksten poetischen Zündungen“1 auszulösen vermag, bringt Xuan Wang auf ganz eigene Weise ästhetische Gegenstände und Kompositionsverfahren zusammen, die auf den ersten – und auch auf den zweiten oder gar dritten – Blick nicht so ohne Weiteres zusammenzugehen scheinen.
Zweige eines Apfelbaums, die einer Garten-Szene von Cranach entspringen, Früchte,Brotleiber, Austernschalen und Gefäße barocker Tisch-Arrangements springen ins Auge. Daneben Blüten, Vögel, Falter, Schlangen und fernöstlich wirkende Landschaftsfragmente, Schränke, Vasen und Truhen, gemauerte Türme, Faltenwürfe, Mobiliar und menschliche Figuren, die – stets gesichtslos – zwischen Skulptur und Malerei changieren. Schnüre, Klebestreifen, Perforationen, Farbspritzer und Pinselstriche sind zu sehen. Fotorealistische Präzision trifft auf Bildstörungen, Fülle auf Leere, Chaos auf Ordnung: In haptisch greifbarer Sinnlichkeit führt Wang uns ein kaleidoskopisches Panorama der Kunstgeschichten und
Stilformen vor Augen.
Die Bilder des 1979 in der chinesischen Provinz Guangxi geborenen, in München lebenden Künstlers sind visuelle Zeitmaschinen, die mühelos zwischen den Orten, Genres, Epochen und Situationen verkehren. Der mehrfach ausgezeichnete einstige Meisterschüler des Malers Erwin Gross begann sein Studium an der Kunstakademie in Nanning, der Hauptstadt von Guangxi, und machte seinen Abschluss an der Staatlichen Akademie der bildenden Künste in Karlsruhe. Ursprünglich von der abstrakt-expressiven Malerei
herkommend, kreiert Wang seit 2012 mittels extremer Augentäuschung – jener Trompel’oeil-
Technik, die die Meister des Barock perfektionierten – verwirrend realistische Räume
multipler Irrealitäten.
1 Max Ernst zit. n. Uwe M. Schneede: Die Kunst des Surrealismus. Malerei, Skulptur, Dichtung, Fotografie, Film, München 2006, S. 142.
In gewisser Weise sind diese Räume ebenso abstrakt wie monochrome Flächen und geometrische Formen. Denn die darin enthaltenen narrativen Bruchstücke entziehen sich eindeutiger Lesbarkeit. Ihres Kontexts enthoben, reißen diese kunsthistorisch oder auch alltäglich besetzten Fragmente mögliche Geschichten zwar an, doch erzählen sie diese nie zu Ende und bleiben dadurch für viele denkbare Interpretationen offen. Jene Offenheit ist dem Künstler wichtig, der Zwischenzustände und Zwischenerscheinungen in der Schwebe zu
halten sucht.
Die Quellen seiner Bilder, die grundsätzlich – entgegen der Annahme, es handele sich vielleicht um digital zusammengefügte Collagen – als Malerei in Acryl und Bleistift auf schlichtem, zuvor mit Farbe besprühtem Papier entstehen, findet er in Kunstkatalogen und Büchern, im Internet oder in Magazinen. Um kompositorische Fragen zu lösen baut er dreidimensionale Modelle aus Pappe oder Holz, die als Grundlage seiner so enorm plastisch wirkenden zweidimensionalen Gemälde dienen. Etliche Wochen benötigt er, um ein Bild mit den Ein- oder Zweihaar-Pinseln fertigzustellen, die er sich selbst mit der Schere
zurechtschneidet und die er fast stündlich aufgrund des schnellen Verschleißes beim Malen austauschen muss.
Den barocken Meistern gleich setzt er vielfach das Motiv des Vorhangs ein, der durch die antike Legende der rivalisierenden Maler Zeuxis und Parrhasios zum Emblem künstlerischer Illusionskraft geworden ist. Im Motiv des Vorhangs geht das Verhüllen und Verbergen einher mit dem Stiften von Neugier und Begehrlichkeit, die darauf gerichtet ist zu erfahren, was sich hinter dem Schleier befindet. Das Wechselspiel zwischen Verstecken und Offenbaren, das auch den Blick des Betrachters, der Betrachterin und deren Wahrnehmung thematisiert, ist für Wang ein Mittel, Eindeutigkeiten zu vermeiden, eine Bildsprache zu schaffen, die Klarheiten zugunsten der geheimnisvollen Magie möglichst großer
Vieldeutigkeit aufhebt.
Die Faszination seiner Bilder entsteht nicht zuletzt durch die spiegelkabinettartige Herstellung ineinandergreifender Illusionsräume, in denen, wie er selbst es formuliert hat, „eine Illusion auf eine weitere Illusion draufgesetzt“ ist. Die Verknüpfung widersinniger Motive und multipler Wirklichkeitsebenen hat den blickverändernden Effekt, den die Kunst des Surrealismus laut Uwe M. Schneede durch „das Überraschende des Zusammentreffens“ von Gegensätzlichem herbeiführte, das „den Funken im Kopf des Lesers oder Betrachters“ als neues, fremdes Bild aufblitzen ließ.2
Einerseits spiegelt sich darin unsere aktuelle visuelle Kultur, dessen ständiger Strom disparater Bildschnipsel und Realitätsmanifestationen unentwegt auf uns einwirkt. Auf der anderen Seite verschränken sich in Wangs Malerei kunsthistorische Traditionen aus Ost und West. Für den Künstler, der selbst zwischen den Welten lebt, ist die Surrealität seiner visuellen „Kombinatorik“3 keineswegs ungewöhnlich. Die Motive und ihre Arrangements in seinen Bildern haben für ihn etwas Vertrautes, da er sich in der Aneignung der erschiedenen Ausgangsquellen mit diesen intensiv auseinandersetzt, die Elemente teils auch wiederholt verwendet, wodurch sie Grundbausteine seines ästhetischen Vokabulars werden.
Die Surrealisten der westlichen Avantgarde der ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts suchten durch Schlafentzug und andere Methoden der Anzapfung des Unbewussten und der Traumzustände sowie durch das Aufeinanderprallen des Widersprüchlichen innere, verborgene Wirklichkeiten zu erschließen und in ihre Bilder zu setzen. In der – deutlich weiter als die europäische – zurückreichenden chinesischen Malkunst haben sich Stilmittel herausgebildet und gehalten, die auf ganz anderen Prinzipien beruhen als die der
vergleichsweise jungen zentralperspektivischen westlichen Kunstgeschichte: darunter unter anderem, wie der Trierer Sinologe Karl-Heinz Pohl hervorhebt, Multi-Perspektivität, Yin-Yang-Binarität, poetische Eigenschaften, Vergangenheitsbezüge und das ästhetische Zusammenwirken von Fülle und Leere.4 Diese Stilmittel sind auch in Wangs Kompositionen erkennbar und vermischen sich mit Ansätzen der westlichen Kunstgeschichte – von Dürer und Cranach, zwei ihrer zentralen Renaissance-Protagonisten, die Wang sehr schätzt, über Maler des Barock und späterer Epochen, darunter auch unbekannte Verfasser, bis hin zu Künstlern der Gegenwart wie Cy Twombly und anonymen fotografischen Vorbildern aus dem Netz.
2 Ebd., S. 143.
3 Ebd., S. 142.
4 Vgl. Karl-Heinz Pohl: Ästhetik der Fülle und Ästhetik der Leere – Anmerkungen zur Ästhetik der
traditionellen und zeitgenössischen Malerei in China, unter: https://www.unitrier.
de/fileadmin/fb2/SIN/Pohl_Publikation/aesthetik_der_fuelle.pdf (abgerufen am 23.9.2017).
In Wangs multi-perspektivischen Kompositionen spielt die Verbindung von Gegensätzen, die sich in der Einheit von Yin und Yang wiederfindet, eine wesentliche Rolle. Das Auge ist aufgefordert, nicht nur von verschiedenen Blickwinkeln aus in die Bilder einzusteigen. Sondern die Betrachterinnen und Betrachter werden anhand der Motive mit gegensätzlichen Eigenschaften konfrontiert, auf die selbige verweisen: Scharfkantiges, Scherenschnitthaftes, Flaches trifft auf Diffuses, Abgerundetes und Plastisches,
Ornamentales auf Alltägliches, Organisches auf Unorganisches, opulente Verdichtung auf Fragmentarisches, Geschlossenes auf Durchlässiges, das Flüssige auf das Feste.
Dem kosmologischen Yin-Yang-Denken gemäß, ein zentrales Konzept der chinesischen Philosophie des Taoismus und eben auch der traditionellen chinesischen Malerei, bedingen sich polare Kräfte gegenseitig und können folglich immer nur in Koexistenz und in einem „vereinigten Wirken“5 bestehen. Vor dem Hintergrund können die Bilder von Xuan Wang nicht nur als Interkulturelle Verflechtungen verstanden werden, die „Brücken“ zwischen Ost und West schaffen. Sondern in ihnen drückt sich auch genau dieses
Prinzip der multiperspektivischen Vereinigung der Gegensätze in der in viele Richtungen
offenen Rahmung der jeweiligen Komposition aus.
Dem Flüchtigen, Beweglichen, Zeitlichen – im Sinne eines Blicks in die Vergangenheit, die Geschichte, ebenso wie im Sinne eines Verfließens von Zeit, das in jedes Bild ebenso eingeschrieben ist wie das Anhalten von Vergänglichkeit – steht das Solide, Immobile, Statische gegenüber. Wie der Künstler erläutert hat, dienen die wiederholt in seinen Kompositionen auftretenden Schränke und Truhen, die oftmals offenstehen und Einbeziehungsweise Ausblicke in weitere Bildwelten, Interieurs oder Landschaften gestatten, als stabilisierende Entitäten, die das Bild gewissermaßen „erden“ und vor der Verflüchtigung
bewahren: „Das Universum ist zu offen; ich benötige deshalb etwas ‚Sperrendes’, damit die Dinge nicht ins Universum hinausfliegen.“6
In dieser Hinsicht sind vielleicht auch die Gegenstände zu sehen, die im faszinierenden Bild Das Meer hat keine Erinnerung von 2017 – eines der wenigen Bilder des Künstlers, die einen Titel tragen– die Weiten einer sanften, transparenten Wellenlandschaft und eines sternenübersäten Firmaments gleichsam verankern und miteinander verknüpfen.
Eine silberne, fein ziselierte Bürste fährt wie ein Boot mit winzigem Pfau über das Gewässer,
aus dem wiederum eine Schnur mit Windungen gen Himmel emporführt. Jener Sternenhimmel könnte sich auch als Staub- oder Schneegestöber entpuppen und das Meer als Wüstenei, in die der Wind Wellenlinien hineingezeichnet hat. Das ist letztlich eine Frage der Interpretation, die den Rezipienten prinzipiell offengelassen wird.
5 Ebd.
6 Xuan Wang im telefonischen Gespräch mit der Autorin am 20.9.2017.
Eine humorvolle Unterströmung durchzieht die Arbeiten des Künstlers – etwas Spielerisches, das indes jederzeit in Ernsthaftigkeit umschlagen kann. Denn Wang macht in seiner Kunst das Verschwinden der Kulturen und ästhetischen Ausdrucksformen der Vergangenheit im unaufhaltsamen Fluss der Zeit, und die Gefahr des Verglimmens, unserer – in seinen Worten „von allen Seiten durch Krisen bedrohten Menschlichkeit“ – gegenwärtig.
Seine Bilder sind Beides: vollendet und zugleich im Fluss befindlich. In ihnen wird die taoistische Grundidee einer zweckfreien Wegbeschreitung, die kein fest umrissenes Ziel verfolgt, mit kompositorischer Verve und Genauigkeit in eine ästhetische Form gebracht, die gestern und heute, östliche und westliche Kulturen, Tiefe und Weite, Dauer und Prozesshaftigkeit verbindet. Implizit lenken sie den Blick, die Aufmerksamkeit der Betrachterin, des Betrachters auch auf die Frage, wie sich „Wirklichkeit“ konstituiert und auf welche Weise wir Realität wahrnehmen – und welche Rolle Bilder bei unserer Wahrnehmung von Welt und Wirklichkeit spielen.
Xuan Wang konfrontiert uns in seinen paradoxen und gleichwohl Paradoxie überwindenden Kompositionen mit einer Vielzahl von Realitäten, Bildwelten, Zeiten und gibt uns zu verstehen, dass diese immer schon simultan mit- und nebeneinander existiert haben und auch weiterhin existieren. In seinen Bildern gibt es keine Hierarchien, ist die Fliege auf dem roten Cape nicht unbedeutender als das Gewand selbst, ist die Schnur zwischen Himmel und Meer keine Marginalie, erwachsen aus dem Zusammenspiel der verschiedenen
Elemente ständig neue Möglichkeiten der Betrachtung. In ihnen halten Ruhe und Spannung, das Vertraute und das Fremde, Nähe und Ferne eine feine Balance.
Jedem und jeder steht es frei, sich auf eigenen Wegen durch die vielfach gebrochenen, Grenzen überschreitenden, ineinander verschränkten Bilderrätseln und Rätselbildern des Künstlers zu bewegen. Dass diese ihre Geheimnisse preisgeben, sollte dabei nicht erwartet werden – doch besteht gerade darin auch das Abenteuer, das bei jedem Blick, jeder Betrachtung immer wieder aufs Neue beginnt.
©Dr. Belinda Grace Gardner, Hamburg, 2017
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